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BOTSCHAFT
SEINER HEILIGKEIT
PAPST JOHANNES PAUL II.
ZUR FEIER DES
WELTFRIEDENSTAGES
1. JANUAR 2002
KEIN FRIEDE OHNE GERECHTIGKEIT,
KEINE GERECHTIGKEIT OHNE VERGEBUNG
1. Dieses Jahr wird der Weltfriedenstag vor dem
Hintergrund der dramatischen Ereignisse vom vergangenen 11. September
begangen. An jenem Tag ist ein Verbrechen schrecklichen Ausmaßes verübt
worden: innerhalb weniger Minuten wurden Tausende unschuldiger Menschen
verschiedener ethnischer Herkunft auf grauenvolle Weise getötet. Seither
haben die Menschen auf der ganzen Welt mit neuer Intensität das
Bewusstsein der persönlichen Verwundbarkeit erfahren; sie haben begonnen,
mit einem tiefen, bis dahin nicht gekannten Angstgefühl in die Zukunft zu
schauen. Angesichts solcher seelischer Zustände möchte die Kirche ein
Zeugnis ihrer Hoffnung geben, in der Überzeugung, dass das Böse, das mysterium
iniquitatis, in den Wechselfällen des menschlichen Lebens nicht das
letzte Wort hat. Die in der Heiligen Schrift umrissene Heilsgeschichte
wirft helles Licht auf die gesamte Geschichte der Welt, indem sie
aufzeigt, wie diese immer von Gottes barmherziger und weiser Sorge
begleitet wird, welcher die Wege kennt, um selbst die verhärtetsten
Herzen zu berühren und von trockenem, unfruchtbarem Boden gute Früchte
zu ernten.
Das ist die Hoffnung, an der die Kirche zu Beginn des Jahres 2002 festhält:
Durch die Gnade Gottes wird die Welt, in der die Macht des Bösen wieder
einmal die Oberhand zu haben scheint, tatsächlich in eine Welt verwandelt
werden, in der die edelsten Bestrebungen des menschlichen Herzens
befriedigt werden können, eine Welt, in der sich der wahre Friede
durchsetzen wird.
Der Friede: Werk der Gerechtigkeit und der Liebe
2. Die blutigen Geschehnisse der jüngsten
Vergangenheit haben mich dazu bewegt, einen Gedanken wieder aufzunehmen,
der mir in der Erinnerung an die geschichtlichen Ereignisse, die mein
Leben, besonders in meinen Jugendjahren, gezeichnet haben, aus tiefstem
Herzen kommt.
Die unermesslichen Leiden der Völker und der Einzelnen, darunter auch
nicht wenige meiner Freunde und Bekannten, verursacht durch die totalitären
Regime des Nationalsozialismus und des Kommunismus, haben stets meine
Seele bedrängt und mich zum Gebet angeregt. Oftmals habe ich
innegehalten, um über die Frage nachzudenken: Welcher Weg führt zur
vollen Wiederherstellung der so grausam verletzten sittlichen und sozialen
Ordnung? Durch Nachdenken und in der persönlichen Beschäftigung mit
der biblischen Offenbarung bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sich
die zerbrochene Ordnung nicht voll wiederherstellen lässt, außer indem
man Gerechtigkeit und Vergebung miteinander verbindet. Die Stützpfeiler
des wahren Friedens sind die Gerechtigkeit und jene besondere Form der
Liebe, wie sie die Vergebung darstellt.
3. Aber wie kann man unter den aktuellen Umständen
von Gerechtigkeit und zugleich von Vergebung als Quellen und Bedingungen
des Friedens reden? Meine Antwort lautet, man kann und man muss davon
reden, ungeachtet der Schwierigkeiten, die solches Reden in sich birgt,
auch deshalb, weil man gewöhnlich an Gerechtigkeit und Vergebung als
alternative Begriffe denkt. Die Vergebung steht im Gegensatz zum Groll und
zur Rache, nicht zur Gerechtigkeit. Der wahre Friede ist in Wirklichkeit
ein »Werk der Gerechtigkeit« (Jes 32, 17). Der Friede ist, wie
das II. Vatikanische Konzil erklärt hat, »die Frucht der Ordnung,
die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche Gesellschaft
eingestiftet hat und die von den Menschen durch stetes Streben nach immer
vollkommenerer Gerechtigkeit verwirklicht werden muss«
(Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 78). Seit über fünfzehn
Jahrhunderten erklingt in der katholischen Kirche die Lehre des Augustinus
von Hippo, der uns daran erinnert, dass der Friede, der mit dem Zutun
aller anzustreben ist, in der tranquillitas ordinis, in der Ruhe
der Ordnung besteht (vgl. De civitate Dei, 19,13).
Der wahre Friede ist daher Frucht der Gerechtigkeit, sittliche Tugend und
rechtliche Garantie, die über die volle Achtung der Rechte und Pflichten
und über die gerechte Aufteilung von Nutzen und Lasten wacht. Da aber die
menschliche Gerechtigkeit, die nun einmal den Grenzen und Egoismen von
Personen und Gruppen ausgesetzt ist, immer zerbrechlich und unvollkommen
ist, muss sie in der Vergebung, die die Wunden heilt und die
tiefgehende Wiederherstellung der gestörten menschlichen Beziehungen
bewirkt, praktiziert und gewissermaßen vervollständigt werden. Das
gilt sowohl in den Spannungen, die Einzelpersonen betreffen, wie in jenen
von übergeordneter und auch internationaler Tragweite. Die Vergebung
widersetzt sich in keiner Weise der Gerechtigkeit, weil sie nicht auf
einer Aufhebung der berechtigten Wiedergutmachungsansprüche für die
verletzte Ordnung besteht. Die Vergebung strebt vielmehr jene Fülle von
Gerechtigkeit an, welche die Ruhe der Ordnung herbeiführt; diese bedeutet
weit mehr als eine zerbrechliche und vorübergehende Einstellung von
Feindseligkeiten, nämlich eine tiefgreifende Heilung der in den Herzen
blutenden Wunden. Wesentlich für eine solche Heilung sind beide, die
Gerechtigkeit und die Vergebung.
Das sind die beiden Dimensionen des Friedens, die ich in dieser Botschaft
aufzeigen möchte. Der Weltfriedenstag bietet in diesem Jahr der ganzen
Menschheit und besonders den Staatsoberhäuptern Gelegenheit, über die
Anforderungen der Gerechtigkeit und über den Aufruf zur Vergebung
angesichts der schwerwiegenden Probleme nachzudenken, welche die Welt
weiterhin quälen, darunter nicht zuletzt die vom organisierten
Terrorismus herbeigeführte neue Stufe der Gewalt.
Das Phänomen des Terrorismus
4. Gerade der auf Gerechtigkeit und Vergebung gegründete
Friede ist es, der heute vom internationalen Terrorismus angegriffen wird.
In den letzten Jahren, besonders nach dem Ende des kalten Krieges, ist der
Terrorismus zu einem hochentwickelten Netz des politischen, technischen
und wirtschaftlichen Zusammenwirkens geworden, das die nationalen Grenzen
überschreitet und sich anschickt, die ganze Welt zu umgarnen. Es handelt
sich um Organisationen im wahrsten Sinn des Wortes, die oft mit
beachtlichen Geldmitteln ausgestattet sind und Strategien auf breiter
Ebene ausarbeiten, wobei sie unschuldige Personen treffen, die mit den von
den Terroristen verfolgten Zielen überhaupt nichts zu tun haben.
Wenn diese Terrororganisationen ihre eigenen Anhänger als Waffen
benutzen, um sie gegen unbewaffnete, ahnungslose Menschen loszuschicken,
machen sie damit auf erschütternde Weise den Todesdrang offenkundig, der
sie speist. Der Terrorismus entspringt dem Hass und erzeugt Isolierung,
Misstrauen und Abschottung. Gewalt gesellt sich zu Gewalt, in einer
tragischen Spirale, die auch die jungen Generationen mithineinzieht, die
so den Hass erben, der schon frühere Generationen entzweit hat. Der
Terrorismus basiert auf der Verachtung des Lebens des Menschen.
Deshalb bildet er nicht allein den Grund für unerträgliche Verbrechen,
sondern stellt selbst ein wirkliches Verbrechen gegen die Menschheit dar,
insofern er auf den Terror als politische und wirtschaftliche Strategie
zurückgreift.
5. Es besteht daher ein Recht auf Verteidigung
gegen den Terrorismus. Es ist ein Recht, das sich wie jedes andere bei
der Wahl sowohl der Ziele wie der Mittel an moralische und rechtliche
Regeln halten muss. Die Identifikation der Schuldigen muss entsprechend
bewiesen werden, weil die strafrechtliche Verantwortung immer personal ist
und daher nicht auf die Nationen, Ethnien und Religionen, denen die
Terroristen angehören, ausgedehnt werden kann. Die internationale
Zusammenarbeit im Kampf gegen das terroristische Treiben muss auch einen
besonderen Einsatz auf politischer, diplomatischer und wirtschaftlicher
Ebene beinhalten, um mutig und entschlossen etwaige Situationen von
Unterdrückung und Ausgrenzung aufzulösen, die den Ursprung für Terrorpläne
bilden könnten. Denn die Anwerbung von Terroristen wird in einem sozialen
Umfeld erleichtert, wo Rechte verletzt und Ungerechtigkeiten allzu lange
geduldet werden.
Es muss jedoch mit aller Klarheit festgestellt werden, dass die in der
Welt bestehenden Ungerechtigkeiten niemals als Entschuldigung zur
Rechtfertigung von Terroranschlägen gebraucht werden können. Außerdem
ist darauf hinzuweisen, dass zu den Opfern des radikalen Zusammenbruchs
der Ordnung, wie er von den Terroristen bezweckt wird, in erster Linie die
Millionen Männer und Frauen gehören, die am wenigsten dagegen gewappnet
sind, den Zusammenbruch der internationalen Solidarität auszuhalten. Ich
spiele im besonderen auf die Völker der Entwicklungsländer an, die
ohnehin schon in Randsituationen leben, in denen es um das bloße Überleben
geht; sie wären von einem globalen wirtschaftlichen und politischen Chaos
am schmerzlichsten betroffen. Der Anspruch des Terrorismus, im Namen der
Armen zu handeln, ist eine offenkundige Unwahrheit.
Man tötet nicht im Namen Gottes!
6. Wer durch die Ausführung von Terroranschlägen
tötet, hegt Gefühle der Verachtung für die Menschheit und manifestiert
Hoffnungslosigkeit gegenüber dem Leben und der Zukunft: alles kann aus
dieser Sicht gehasst und zerstört werden. Der Terrorist meint, der von
ihm geglaubten Wahrheit bzw. dem erlittenen Leid komme eine derart
absolute Bedeutung zu, dass sie ihn dazu berechtigen, mit der Zerstörung
auch unschuldiger Menschenleben zu reagieren. Bisweilen ist der
Terrorismus das Kind eines fanatischen Fundamentalismus, der aus
der Überzeugung entsteht, allen die Annahme der eigenen Sichtweise der
Wahrheit auferlegen zu können. Die Wahrheit kann jedoch auch dann, wenn
sie erlangt wird – und das geschieht immer auf eine begrenzte und
vervollkommnungsfähige Weise –, niemals aufgezwungen werden. Die
Achtung vor dem Gewissen des anderen, in dem sich das Abbild Gottes selbst
widerspiegelt (vgl. Gen 1, 26-27), gestattet nur, die Wahrheit dem
anderen vorzulegen; an ihm liegt es dann, sie verantwortungsvoll
anzunehmen. Die Anmaßung, das, was man selbst für die Wahrheit hält,
anderen gewaltsam aufzuzwingen, bedeutet, dass dadurch die Würde des
Menschen verletzt und schließlich Gott, dessen Abbild er ist, beleidigt
wird. Darum ist der fundamentalistische Fanatismus eine Haltung, die in
radikalem Gegensatz zum Glauben an Gott steht. Wenn wir genau hinschauen, instrumentalisiert
der Terrorismus nicht nur den Menschen, sondern auch Gott, indem er
ihn schließlich zu einem Götzen macht, dessen er sich für seine Zwecke
bedient.
7. Kein Verantwortlicher der Religionen kann
daher dem Terrorismus gegenüber Nachsicht üben und noch weniger kann er
ihn predigen. Es ist eine Profanierung der Religion, sich als
Terroristen im Namen Gottes zu bezeichnen, dem Menschen im Namen Gottes
Gewalt anzutun. Die terroristische Gewalt steht im Gegensatz zum Glauben
an Gott, den Schöpfer des Menschen, an Gott, der sich um den Menschen kümmert
und ihn liebt. Insbesondere steht er völlig im Gegensatz zum Glauben an
Christus den Herrn, der seine Jünger zu beten gelehrt hat: »Erlass uns
unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben«
(Mt 6,12).
In der Nachfolge der Lehre und des Beispiels Jesu sind die Christen davon
überzeugt, dass Barmherzigkeit üben bedeutet, die Wahrheit unseres
Lebens voll zu leben: Wir können und müssen barmherzig sein, weil uns
von einem Gott, der die erbarmende Liebe ist, Barmherzigkeit erwiesen
worden ist (vgl. 1 Joh 4,7-12). Der Gott, der uns durch seinen
Eintritt in die Geschichte erlöst und im Drama des Karfreitags den Sieg
des Ostertages vorbereitet, ist ein Gott des Erbarmens und der Vergebung
(vgl. Ps 103,3-4.10-13). Gegenüber denen, die ihn angriffen, weil
er mit den Sündern zusammen aß, hat sich Jesus so ausgedrückt: »Darum
lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin
gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten« (Mt 9,13).
Die Jünger Christi, getauft auf seinen Tod und seine Auferstehung, müssen
immer Männer und Frauen der Barmherzigkeit und der Vergebung sein.
Die Notwendigkeit der Vergebung
8. Was aber bedeutet das Vergeben konkret? Und
warum müssen wir vergeben? Das Sprechen über die Vergebung kann
diesen Fragestellungen nicht ausweichen. Indem ich eine Überlegung aus
meiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1997 (»Biete die Vergebung an,
empfange den Frieden«) wieder aufgreife, möchte ich daran erinnern, dass
die Vergebung, noch bevor sie ein gesellschaftliches Faktum wird, ihren
Sitz im Herzen eines jeden hat. Nur in dem Maße, in dem sich eine Ethik
und eine Kultur des Vergebens herausbildet, kann man eine »Politik der
Versöhnung« erhoffen, die ihren Niederschlag in sozialen
Verhaltensweisen und rechtsstaatlichen Einrichtungen findet, in denen die
Gerechtigkeit selbst ein menschliches Antlitz annimmt.
In Wirklichkeit ist die Vergebung eine persönliche Entscheidung, eine
Option des Herzens, die sich gegen den spontanen Instinkt richtet, das Böse
mit dem Bösen zu beantworten. Diese Option findet ihr Richtmaß in der
Liebe Gottes, die uns trotz unserer Sünde annimmt. Ihr höchstes Vorbild
ist die Vergebung Christi, der am Kreuz gebetet hat: »Vater, vergib
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk 23,34).
Die Vergebung gestaltet sich daher nach göttlichem Ursprung und Maß.
Dies schließt allerdings nicht aus, dass man ihren Wert auch im Licht
vernünftiger menschlicher Überlegungen erfassen kann. Als erste von
allen jene, die mit der Erfahrung zusammenhängt, dass der Mensch, der Böses
begeht, in sich selbst verschlossen lebt. Er wird sich seiner
Zerbrechlichkeit bewusst und hofft auf die Nachsicht der anderen. Warum
also sollte man sich den anderen gegenüber nicht so verhalten, wie man
selbst behandelt zu werden wünscht? Jeder Mensch hegt in sich die
Hoffnung, das Leben in seinem Verlauf von neuem beginnen zu können und
nicht für immer Gefangener der eigenen Irrtümer und Schuld zu bleiben.
Er träumt davon, den Blick wieder zu erheben und in die Zukunft zu
richten, um noch Perspektiven des Vertrauens und des Einsatzes entdecken
zu können.
9. Als menschliche Handlung ist die Vergebung zunächst
eine Initiative des Einzelnen in seiner Beziehung zu den anderen, ihm ähnlichen
Geschöpfen. Der Mensch hat jedoch eine wesentliche soziale Dimension,
kraft welcher er ein Netz von Beziehungen knüpft, in denen er sich selbst
zum Ausdruck bringt – leider nicht nur im Guten, sondern auch im Bösen.
Die Folge davon ist, dass sich die Vergebung auch auf sozialer Ebene
als notwendig erweist. Die Familien, die Gruppen, die Staaten, die Völkergemeinschaft
selbst müssen sich der Vergebung öffnen, um unterbrochene Verbindungen
wieder aufzunehmen, um Situationen einer fruchtlosen gegenseitigen
Verurteilung zu überwinden, um über die Versuchung zu siegen, die
anderen auszuschließen, indem man ihnen die Berufungsmöglichkeit
verwehrt. Die Fähigkeit zur Vergebung liegt jedem Plan für eine
gerechtere und solidarischere Gesellschaft in der Zukunft zugrunde.
Umgekehrt kommt die versäumte Vergebung, besonders wenn dadurch die
Fortdauer von Konflikten geschürt wird, der Entwicklung der Völker sehr
teuer zu stehen. Die Ressourcen werden verwendet, um den Rüstungswettlauf,
die Kriegskosten und die Folgen wirtschaftlicher Repressalien zu tragen.
Damit fehlen die notwendigen Geldmittel, um Entwicklung, Frieden und
Gerechtigkeit voranzubringen. Unter wie vielen Schmerzen leidet die
Menschheit, weil sie sich nicht zu versöhnen weiß, wie oft wird sie zurückgeworfen,
weil sie nicht zu vergeben weiß! Der Friede ist die Voraussetzung für
die Entwicklung, aber ein wirklicher Friede wird nur durch die Vergebung
ermöglicht.
Die Vergebung, der Hauptweg
10. Das Angebot der Vergebung ist weder
unmittelbar zu verstehen, noch mühelos anzunehmen; es ist eine in
gewisser Hinsicht paradoxe Botschaft. Tatsächlich schließt die Vergebung
immer kurzfristig einen scheinbaren Verlust ein, während sie
langfristig einen tatsächlichen Gewinn sicherstellt. Die Gewalt
ist das genaue Gegenteil; sie entscheidet sich für einen kurzfristigen
Gewinn, bereitet aber auf lange Sicht einen tatsächlichen, anhaltenden
Verlust vor. Die Vergebung könnte als eine Schwäche erscheinen; in
Wirklichkeit setzt sie, sowohl um gewährt wie um angenommen zu werden,
eine große geistige Kraft und einen bewährten moralischen Mut voraus.
Weit davon entfernt, die Person herabzusetzen, führt die Vergebung sie zu
einem erfüllten und reicheren Menschsein, das fähig ist, in sich einen
Strahl des Glanzes des Schöpfers widerzuspiegeln.
Das Amt, das ich im Dienst des Evangeliums ausübe, lässt mich nachdrücklich
die Pflicht spüren und verleiht mir zugleich die Kraft, auf der
Notwendigkeit der Vergebung zu bestehen. Das tue ich auch heute, getragen
von der Hoffnung, ruhige und reife Überlegungen im Hinblick auf eine
allgemeine Erneuerung in den Herzen der Menschen und in den Beziehungen
zwischen den Völkern der Erde wecken zu können.
11. Beim Nachdenken über das Thema Vergebung kann
man nicht umhin, an einige tragische Konfliktsituationen zu erinnern, die
schon seit allzu langer Zeit tiefe und quälende Hassgefühle schüren,
was wiederum eine unaufhaltsame Spirale persönlicher und kollektiver Tragödien
zur Folge hat. Ich nehme im besonderen auf die Geschehnisse im Heiligen
Land Bezug, dem gesegneten und heiligen Ort der Begegnung Gottes mit den
Menschen, dem Ort des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu, des
Friedensfürsten.
Die heikle weltpolitische Situation macht es erforderlich, mit Nachdruck
erneut die Dringlichkeit einer Lösung des arabisch-israelischen Konflikts
hervorzuheben, der mit sich abwechselnden mehr oder weniger heißen Phasen
nun seit über fünfzig Jahren andauert. Der ständige Rückgriff auf
Terrorakte oder Krieg, der die Lage aller erschwert und in die
Aussichtslosigkeit führt, muss endlich entschlossenen Verhandlungen Platz
machen. Die Rechte und Ansprüche jeder Seite werden in gerechtem
Ausgleich gebührend Berücksichtigung finden können, wenn und sobald bei
allen der Wille zu Gerechtigkeit und Versöhnung vorherrscht. An jene
geliebten Völker richte ich erneut die deutliche Aufforderung, sich um
eine neue Ära gegenseitiger Achtung und konstruktiven Einvernehmens zu
bemühen.
Interreligiöse Verständigung und Zusammenarbeit
12. Eine besondere Verantwortung bei dieser großangelegten
Bemühung tragen die religiösen Führer. Die christlichen Konfessionen
und die großen Religionen der Menschheit müssen zusammenarbeiten, um die
sozialen und kulturellen Ursachen des Terrorismus zu beseitigen; sie müssen
die Größe und Würde der menschlichen Person lehren und eine größere
Bewusstheit von der Einheit des Menschengeschlechts verbreiten. Es
handelt sich um einen klar bestimmten Bereich des Dialogs und der ökumenischen
und interreligiösen Zusammenarbeit, um einen dringend erforderlichen
Dienst der Religionen am Frieden zwischen den Völkern.
Im besonderen bin ich davon überzeugt, dass die religiösen Führer der
Juden, der Christen und der Muslime durch die öffentliche Verurteilung
des Terrorismus die Initiative ergreifen sollen, indem sie denjenigen, die
sich an ihm beteiligen, jede Form religiöser oder moralischer
Legitimation verweigern.
13. Wenn die Führer der Religionen der Welt
gemeinsam die sittliche Wahrheit bezeugen, nach welcher der vorsätzliche
Mord des Unschuldigen immer, überall und ohne Ausnahme, eine schwere Sünde
ist, werden sie damit das sich Heranbilden einer moralisch richtigen öffentlichen
Meinung fördern. Das ist die unerlässliche Voraussetzung für den Aufbau
einer internationalen Gesellschaft, die imstande ist, als Ziel die Ruhe
der Ordnung in Gerechtigkeit und Freiheit zu verfolgen.
Ein derartiges Engagement von seiten der Religionen wird auf dem Weg
der Vergebung Eingang finden müssen, die zu gegenseitigem Verständnis,
zu Achtung und Vertrauen führt. Der Dienst, den die Religionen für den
Frieden und gegen den Terrorismus leisten können, besteht genau in der
Pädagogik der Vergebung, weil der Mensch, der vergibt oder um
Vergebung bittet, begreift, dass es eine Wahrheit gibt, die größer ist
als er, und durch deren Annahme er über sich selbst hinauszuwachsen
vermag.
Gebet für den Frieden
14. Aus eben diesem Grund ist das Gebet für den
Frieden nicht ein Element, das dem Einsatz für den Frieden »nachfolgt«.
Im Gegenteil, es liegt dem Bemühen um die Herstellung des Friedens in
Ordnung, Gerechtigkeit und Freiheit am Herzen. Beten für den Frieden heißt,
das menschliche Herz dem Eindringen der erneuernden Kraft Gottes öffnen.
Gott kann durch die belebende Kraft seiner Gnade selbst dort Öffnungen für
den Frieden schaffen, wo es nur Hindernisse und Abriegelungen zu geben
scheint; trotz einer langen Geschichte von Trennungen und Kämpfen vermag
er die Solidarität der Menschheitsfamilie zu stärken und auszuweiten.
Beten für den Frieden heißt beten für die Gerechtigkeit, für eine
angemessene Ordnung innerhalb der Nationen und in ihren Beziehungen
untereinander. Das heißt auch beten für die Freiheit, besonders für die
Religionsfreiheit, die ein menschliches und ziviles Grundrecht eines jeden
Individuums ist. Beten für den Frieden heißt dafür beten, die Vergebung
Gottes zu erlangen und gleichzeitig im Mut zu wachsen, den jeder nötig
hat, der seinerseits die erlittenen Verletzungen vergeben will.
Aus all diesen Gründen habe ich die Vertreter der Weltreligionen am
kommenden 24. Januar nach Assisi eingeladen, um in der Stadt des
heiligen Franziskus für den Frieden zu beten. Wir wollen damit zum
Ausdruck bringen, dass das ehrliche religiöse Empfinden eine unerschöpfliche
Quelle der gegenseitigen Achtung und des Verstehens unter den Völkern
ist: genau darin liegt das wichtigste Gegenmittel gegen Gewalt und
Konflikte. In dieser Zeit großer Besorgnis muss sich die
Menschheitsfamilie auf die sicheren Gründe unserer Hoffnung besinnen.
Gerade dies beabsichtigen wir in Assisi zu verkünden, indem wir – mit
den eindrucksvollen, dem heiligen Franziskus zugeschriebenen Worten – den
Allmächtigen Gott bitten, uns zu einem Werkzeug seines Friedens zu
machen.
15. Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine
Gerechtigkeit ohne Vergebung: Das will ich in dieser Botschaft
Glaubenden und Nichtglaubenden, den Männern und Frauen guten Willens verkünden,
denen das Wohl der Menschheitsfamilie und ihre Zukunft am Herzen liegt.
Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung:
Daran will ich alle erinnern, die das Geschick der menschlichen
Gemeinschaften in Händen haben, damit sie sich in ihren schweren und
schwierigen Entscheidungen immer vom Licht des wahren Wohls des Menschen
im Hinblick auf das Gemeinwohl leiten lassen.
Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung:
Ich werde nicht müde, diese Mahnung an alle zu wiederholen, die aus dem
einen oder anderen Grund Hass, Rachsucht und Zerstörungswut in sich
hegen.
Möge an diesem Welttag des Friedens aus den Herzen aller Gläubigen das
Gebet für jedes der Opfer des Terrorismus noch eindringlicher
emporsteigen, für ihre in tragischer Weise getroffenen Familien und für
alle Völker, die nach wie vor von Terrorismus und Krieg heimgesucht und
erschüttert werden. Selbst jene, die durch solche erbarmungslosen
Aktionen Gott und den Menschen schwer beleidigen, sollen nicht außerhalb
des Lichtstrahls unseres Gebetes bleiben: Möge es ihnen vergönnt sein,
wieder zu sich selbst zu kommen und sich Rechenschaft zu geben über das Böse,
das sie begehen, so dass sie sich gedrängt fühlen, jeden Vorsatz der
Gewalt aufzugeben und die Vergebung zu suchen. Möge die
Menschheitsfamilie in diesen stürmischen Zeiten den wahren und
dauerhaften Frieden finden, jenen Frieden, der allein aus der Begegnung
der Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit entstehen kann!
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2001,
Hochfest der Unbefleckten Empfängnis Mariens.
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